Beispiel Gedichtinterpretation

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Erschließung und Interpretation eines lyrischen Texts: Beispiel

Aufgabenstellung:

a. Erschließen und interpretieren Sie das Gedicht „Deutschunterricht“ von Alexander Sinner.
b. Vergleichen Sie ausgehend von Ihren Ergebnissen die Gestaltung des Themas „Schule“ in einem anderen literarischen Werk.


Alexander Sinner: Deutschunterricht 

(01) Ich sitze hier und denke nach, 
(02) wieso ertrag ich diese Schmach?
(03) Ich könnte doch auch draußen sein,
(04) Bei Bratwurst, Bier und Sonnenschein!
(05) Doch Nein! das wäre wohl fatal,
(06) und ich würd’ enden im Kanal.
(07) Denn ohne Deutsch ist alles schlecht,
(08) drum les ich täglich Bertolt Brecht.
(09) Ich widme mich jetzt wieder Hesse,
(10) und halt am besten meine …


Vorschlag für eine Ausführung:

In den spätabendlichen Diskussionsrunden des Fernsehens hat das Thema „Bildung“ Konjunktur. Qualifiziert für die Teilnahme daran scheint grundsätzlich jeder – schließlich hat jeder selbst Bildungs-Erfahrungen gemacht. Oft spielt es dabei keine Rolle, dass diese Jahrzehnte zurückliegen und dass man nur mittelbar an den Bildungserfahrungen der eigenen Kinder partizipieren kann. Auch in der Literatur ist die Auseinandersetzung mit dem Thema „Schule“ von diesem Umstand geprägt: Die großen „Schul-Romane“ wie Hesses „Unterm Rad“ oder Manns „Professor Unrat“ wurden Jahre nach dem eigenen Schulbesuch verfasst. Alexander Sinners Gedicht „Deutschunterricht“ fällt deswegen aus der Reihe. Hier äußert sich ein Betroffener.

Die Gattung „Gedicht“ ist der Öffentlichkeit gerade so präsent wie seit langer Zeit nicht mehr. Günter Grass hat mit seinem „Gedicht“ für viel Diskussionsstoff gesorgt. Dabei stellt sich die Frage, ob man seinen Text überhaupt „Gedicht“ nennen sollte. Sinners Text hingegen ist diesbezüglich über jeden Zweifel erhaben. Er erfüllt alle Klischees, die ein Gedicht im Volksmund erfüllen muss. Sein zehnzeiliges Gedicht reimt sich nämlich nicht nur, es enthält sogar ausschließlich leserfreundliche Paarreime. Dass es keine Zeilensprünge über die Paarreime hinaus und noch dazu ein einheitliches, alternierendes Metrum gibt, kommt dieser Leserfreundlichkeit zusätzlich zugute. Man könnte sagen, Sinner verwendet eine populäre Volksliedform, derer sich Hochzeits- oder Geburtstagsgedichte gerne bedienen.

Der Titel „Deutschunterricht“ legt nahe, dass sich der Sprecher dieses Gedichts gerade im Deutschunterricht befindet. Es geht also, wenn man ihm beim Wort nimmt, nicht allgemein um das Thema „Schule“, sondern den Deutschunterricht im Speziellen. Im ersten Verspaar zeigt das Gedicht einen über seine Situation reflektierenden Sprecher (1). Dass er von einer „Schmach“ (2) spricht, die der Unterricht für ihn bedeutet, deutet darauf hin, dass seine Leistungen eher dürftig sind. Er nimmt nicht teil, sondern „erträgt“ (2) ihn. Warum er gerade so empfindet, wird im zweiten Verspaar offensichtlich: Die Alternative sind frische Luft („draußen“, 3), „Bratwurst, Bier und Sonnenschein“ (4). Hier artikuliert sich ein ungezügelter Hedonismus, der die Vorteile des „schönen Lebens“ mit der „Schmach“ (vgl. V. 2) des Deutschunterrichts aufrechnet.

Zweifelsohne handelt es sich bei „Deutschunterricht“ um ein „Ich-Gedicht“: In den nur zehn Versen taucht sechsmal das Personalpronomen „ich“ auf. Der Sprecher stellt sich selbst in den Mittelpunkt. Es geht ihm nicht um eine Erörterung der gesellschaftlichen Bedeutung des Deutschunterrichts, sondern – auch das fügt sich in das eben gezeichnete Bild hedonistischen Erlebens – lediglich um sich selbst, eine streng subjektive Sichtweise.

Dem Hedonismus und der Sehnsucht nach dem Erleben in den ersten beiden Verspaaren wird nun die Antwort der Vernunft gegenübergestellt. Demnach wäre es „fatal“, würde der Sprecher nicht am Deutschunterricht teilnehmen. Dabei greift er die von Erwachsenen gerne bediente Schwarz-Weiß-Malerei auf (wenn du nicht lernst, endest du in der Gosse – hier „im Kanal“, 6) und karikiert durch die Übertreibung diese Argumentation. Er distanziert sich von dieser Position durch Ironie – der Wortlaut von Vers 7 und 8 ist in seiner übertriebenen Undifferenziertheit sicher nicht ernst zu nehmen.

Die Pointe des Gedichts in den letzten beiden Versen funktioniert aufgrund der strengen formalen Gestaltung des Gedichts in den ersten Verspaaren. So wird das streng alternierende Metrum hier fortgesetzt. Doch dass in Vers 9 erstmals statt acht nun neun Silben enthalten sind, lässt den Leser leicht stocken. Er bekommt nun die Ahnung, dass noch etwas Entscheidendes passieren wird. In der Tat ist das so: Weil sich bisher die Reime immer paaren, ist klar, dass der Sprecher mit seinen drei Pünktchen im letzten Vers die auch metrisch passende „Fresse“ ausspart. Dass er sie nicht durch ein anderes Wort (Heinz Erhardt hätte hier vielleicht „Mund“ eingefügt) ersetzt, zeigt kein Interesse an subtilem Witz. Es dokumentiert einerseits ein Interesse an Klarheit der Ausdrucks – denn jeder Leser weiß, was gemeint ist -, andererseits auch eine gewisse Scheu, die Gossensprache expressis verbis ins Gedicht zu integrieren.

Gleichzeitig pointiert dieser Abschluss des Gedichts die Einstellung des ich-bezogenen Sprechers: Es geht ihm um die Skizze seiner persönlichen Empfindungen im als langweilig und sinnlos empfundenen Deutschunterricht. Es geht ihm aber nicht um Kritik am oder Rebellion gegen das Schulsystem, denn am Ende nimmt er klaglos hin, was mit ihm geschieht. Gerade das sieht man im letzten Vers – der Sprecher schweigt und stört den Unterricht nicht (10).

Das vielleicht berühmteste Schulgedicht stammt aus der Feder Heinz Erhardts. Es ist um 1970 entstanden und schlicht „Die Schule“ betitelt. Schon im Titel zeigt sich: Während es Sinner um den Deutschunterricht geht, thematisiert Erhardt die gesellschaftliche Institution „Schule“ ganz allgemein. Auffallend ist jedoch eine gewisse formale Ähnlichkeit, schreibt doch auch Erhardt kein „modernes“ Gedicht, sondern bedient sich ebenso einer volksliedartigen Form. Auch er verwendet Paarreime, gliedert seine 18 Verse jedoch in drei Strophen. Auf eine Einleitung über das Wesen der Schule folgt die Einführung der beiden Charaktere Kai und Karl-Heinz, deren Lebensweg in der dritten Strophe schließlich vorgestellt wird.

Neben der Thematik – Sinner engt diese auf den Deutschunterricht ein, Erhardt weitet sie auf die gesamte Schule aus – weisen die beiden Gedichte auch Differenzen bezüglich der Gestaltung des Sprechers auf. Der Sprecher in Sinners Gedicht ist ich-bezogen; der Sprecher in Erhardts Gedicht aber ist neutral, es kommt kein „ich“ vor, statt dessen fungiert er als eine Art „objektiver Erzähler“. In dieser Funktion kommt er zu dem Ergebnis, dass die Schulbildung obsolet sei, schließlich wird der „dumme“ Karl-Heinz Chef, während der schlaue Kai nur als Hotelportier arbeiten kann.

Der Sprecher in Sinners Text übt aus der Innenperspektive Kritik an der Schule. Er macht darauf aufmerksam, dass ihn das, was im Deutschunterricht behandelt wird, nicht interessiert, dass es aber allgemein wohl als vernünftig angesehen wird, den Deutschunterricht zu besuchen. Erhardts Kritik generiert sich aus der Außenperspektive. Der Sprecher macht deutlich, dass die Schulbildung keine Voraussetzung für eine spätere Karriere ist. Natürlich könnte man in diesem Gedicht auch Kritik an einem anderen gesellschaftlichen Umstand herauslesen: Dass nämlich mitunter auch Bosse von Wirtschaftsunternehmen (wie Karl-Heinz) nicht eben schnell „die Wurzel aus der Vier“ finden, also unter den „verschiedenen Geistesgaben“ eher leiden können.

Aus dem Vergleich lassen sich somit zwei wichtige Ergebnisse gewinnen. Erstens wird das Thema „Schule“ in beiden Gedichten formal ähnlich gestaltet – „volksliedhaft“ und leserfreundlich. Zweitens stehen beide Gedichte für die beiden verschiedenen Perspektiven, aus denen die Schule diskutiert werden kann: Die – bewusst subjektive – Perspektive des Schülers auf der einen Seite, die – nur vermeintlich objektive – Perspektive eines älteren Mitglieds der Gesellschaft auf der anderen Seite.

Im Lichte der Diskussionsrunden, die sich mit der Schulbildung beschäftigen, ist dabei freilich zu fragen: Welche der beiden Perspektiven bringt uns in der Diskussion weiter? Oder handelt es sich bei beiden Gedichten vielmehr um spielerische Auseinandersetzungen mit dem Themenfeld der Schule? Ist nicht beiden bewusst, dass die angesprochenen Probleme in der Existenz von Schule selbst begründet sind? Beide versuchen, sich des Wortwitzes zu bedienen. Beide versuchen, auch mithilfe formaler Elemente (Reimschema) Komik zu erzeugen. Das spricht durchaus auch für die These, dass es beiden „lediglich“ darum geht, die Paradoxien des Systems „Schule“ zu markieren – und dadurch vielleicht auch zeigen, dass wir das Thema nicht immer mit dem missionarischen Ernst einer Maybrit Illner oder eines Frank Plasberg diskutieren müssen.