Theatertheorie Fremd- und Selbstdarstellung

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Lies dir den nachfolgenden Textauszug durch und kläre die Bedeutung der Wörter, die dir nicht bekannt sind. Informiere dich auch in den Hintergrundinformationen über den Kontext der Szene.

Frank Wedekind Frühlings Erwachen (1890-1891)

Ausschnitt aus Szene III,3 In der 3. Szene des III. Aktes streiten sich die Eheleute Gabor über das Verhalten und den Charakter ihres Sohnes Melchior. Dieser ist wegen einer Schrift mit sexuellem Inhalt der Schule verwiesen worden.

Herr und Frau Gabor

Frau Gabor: ... Man hatte einen Sündenbock nötig. Man durfte die überall laut werdenden Anschuldigungen nicht auf sich beruhen lassen. Und nun mein kind das Unglück gehabt, den Zöpfen im richtigen Moment in den Schuss zu laufen, nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner Henker vollenden helfen? - Bewahre mich Gott davor!
Herr Gabor - Ich habe deine geistvolle Erziehungsmethode vierzehn Jahre schweigend mit angesehn. Sie widersprach meinen Begriffen. Ich hatte von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei kein Spielzeug; ein kind habe Anspruch auf unsern heiligsten Ernst. aber ich sagte mir, wenn der Geist und die Grazie des einen die ernsten Grundsätze eines andern zu ersetzen imstande sind, so mögen sie den ernsten Grundsätzen vorzuziehen sein. - Ich mache dir keinen Vorwurf, Fanny. Aber vertritt mir den Weg nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an dem Junngen gutzumachen suche!
Frau Gabor: Ich vertrete dir den Weg, solange ein Tropfen warmen Blutes in mit wallt! In der Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. eine Verbrechernatur mag sich in solchen instituten bessern lassen. Ich weiß es nicht. Ein gutgearteter mensch wird so gewiss zum Verbrecher darin, wie die Pflanze verkommt, der du Luft und Sonne entziehst. Ich bin mir keines Unrechtes bewusst. ich danke heute wie immer dem himmel, dass er mir den Weg gezeigt, in meinem Kinde einen rechtlichen Charakter und eine edle Denkungsweise zu wecken. Was hat er denn so Schreckliches getan? Es soll mir nicht einfallen, ihn entschuldigen zu wollen - daran, dass man ihn aus der Schule gejagt, trägt er keine Schuld. Und wär es sein Verschulden, so hat er es ja gebüßt. Du magst das alles besser wissen. Du magst theoretisch vollkomen im Rechtee sein. aber ich kann mir mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod jagen lassen!
Herr Gabor: Das hängt nicht von uns ab, Fanny. - Das ist eini Risiko, das wir mit unserem Glück auf uns genommen. Wer zu schwach für den Marsch ist, bleibt am Wege. Und es ist schließlich das Schlimmste nicht, wenn das Unausbleibliche zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten! Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu festigen, solange die Vernunft Mittel weiß. - Dass man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht seine Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch seine Schuld nicht! - Du bist zu leichtherzig. Du erblickst vorwitzige Tändelei, wo es sich um Grundschäden des Charakters handelt. Ihr Frauen seid nicht berufen, über solche Dinge zu urteilen. Wer das schreiben kann, was Melchior schreibt, der muss im innersten Kern seines Wesens angefault sein. Das mark ist ergriffen. Eine halbwegs gesunde Natur lässt sich zu so etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen; jeder von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift hingegen vertritt das Prinzip. Seine Schrift entspricht keinem zufälligen gelegentlichen Fehltritt, sie dokumentiert mit schaudererregender Deutlichkeit den aufrichtig gehegten Vorsatz, jene natürliche Veranlagung, jenen Hang zum Unmoralischeen, weil es das Unmoralische ist. Seine Schrift manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption, die wir Jursiten mi dem Ausdruck "moralisccher Irrsinn" bezeichnen - Ob sich gegen seinen Zustandd etwas ausrichten lässt, vermag ich nicht zu sagen. Wenn wir uns einen Hoffnungsschimmer bewahren wollen, und in erster Linie unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit entschiedenheit und mit allem Ernste ans Werk zu gehen. - Lass uns nicht länger streiten, Fanny! Ich fühle, wie schwer es dir wird. Ich wei´, dass du ihn vergötterst, weil er so ganz deinem genialischen Naturell entspricht. Sei stärker als du! Zeig dich deinem Sohn gegenüber endlich einmal selbstlos!
Frau Gabor: [...]- Es ist unfassbar! Es ist gar nicht zu glauben! Was schreibt er denn in aller Welt! Ist`s denn nicht der eklatanteste Beweis für seine Harmlosigkeit, für seine Dummheit, für seine kindliche Unberührtheit, dass er so etwas schreiben kann! - Man muss keine Ahnung von menschenkenntnis besitzen - man muss ein vollständig entseelter Bürokrat oder ganz nur Beschränktheit sein, um hier moralische Korruption zu wittern! - sag, was du willst. Wenn du Melchior in die Korrektionsanstalt bringst, sind wir geschieden. Und dann lass mich sehen, ob ich nicht irgendwo in der Welt hilfe und Mittel finde, mein Kind seinem Untergange zu entreißen.
Herr Gabor: du wirst dich drein schicken müssen - wenn nicht heute, dann morgen. leicht wird es keinem mit dem Unglck zu diskontieren. Ich werde dir zur Seite stehen, und wenn dein Mut zu erliegen droht, keine Mühe und kein Opfer scheuen, dir das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so grau, so wolkig - es fehlte nur noch, dass auch du mir noch verloren gingst.
Frau Gabor: Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn nicht wieder. Er erträgt das Gemeine nicht. Er findet sichnicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht den Zwang; das entsetzlichste Beispiel schwebt ihm vor Augen! - Und sehe ich ihn wieder - Gott, Gott, dieses frühlingsfrohe Herz - sein helles Lachen - alles, alles - seine kindliche Entschlossenheit, mutig zu kämpfen für Gut und Recht - o dieser Morgenhimmel, wie ich ihn licht und rein in seiner Seele gehegt als mein höchstes Gut. Halte dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit!Halte dich an mich! Verfahre mit mir wie du willst! Ich trage die Schuld. - Aber lass deine fürchterliche Hand von dem Kind weg.
Herr Gabor: Er hat sich vergangen!
Frau Gabor: Er hat sich nicht vergangen!
Herr Gabor: Er hat sich vergangen! ---- [...]

Aufgabe 1

Notieren Sie sich stichpunktartig die zentralen Aussagen, die Frau Gabor und Herr Gabor über den Charakter ihres Sohnes treffen.


Frau Gabor:
- man hatte einen Sündenbock nötig
- das Unglück gehabt
- ein gutgearteter Mensch
- einen rechtlichen Charakter und eine edle Denkungsweise
- keine Schuld
- seine Harmlosigkeit, für seine Dummheit, für seine kindliche Unberührtheit
- er erträgt das Gemeine nicht. Er findet sich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht den Zwang (...) dieses frühlingsfrohe Herz - sein helles Lachen - seine kindliche Entschloossenheit, mutig zu kämpfen für Gut und Recht
Herr Gabor:
- Wankenden
- dass man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht seine Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch seine Schuld nicht!
- Grundschäden des Charakters
- Wer das schreiben kann (...) der muss im innerrsten Kern seines Wesens angefault sein. Das Mark ist ergriffen.
- seine Schrift entspricht keinem zufälligen gelegentlichen Fehltritt, sie dokumentiert mit schaudererregender Deutlichkeit den aufrichhtig gehegten Vorsatz, jene natürliche Veranlaguung (...) zum Unmoralischen, weil es das Unmoralische ist.
- seine Schrift manifestiert jene exzeptionellle geistige Korruption, die wir Juristen mit dem Ausdruck "moralischer Irrsinn" bezeichnen
- er so ganz deinem genialischen Naturell entspricht
- er hat sich vergangen


Aufgabe 2

Wie wird Melchior in dieser Szene von seiner Mutter und seinem Vater beschrieben? kennzeichnen Sie mit wenigen Worten die unterschiedlichen Positionen.


Musterlösung
In der 3. Szene des III. Aktes streiten sich die Eheleute Gabor über das Verhalten und den Charakter ihres Sohnes Melchior. Dieser ist wegen einer Schrift mit sexuellem Inhalt der Schule verwiesen worden.
Herr Gabor betont im Verlauf des Gesprächs die "Grundschäden des Charakters", der "im innersten Kern seines Wesens angefault" sei, wohingegen seine Frau ihren Sohn in der Rolle als "Sündenbock" sieht, der "Unglück gehabt" habe. Für Fanny Gabor ist Melchior ein "gutgearteter mensch" mit einem "rechtlichen CharakteR" und einer "edle(n) Denkungsweise". Sie betont aus ihrer Mutterrolle heraus seine "Harmlosigkeit" und "kindliche Unberührtheit", spricht sogar von Dummheit, um das Verhalten Melchiors zu entschuldigen.
Ihr Mann hingegen versucht juristisch zu argumentieren und unterstellt Melchiors Tat eine "natürliche Veranlagung" und bezeichnet sie als "moralischen Irrsinn".
Beide Eltern versuchen das Verhalten Melchiors aus seinem Charakter abzuleiten, die Mutter sieht in Melchior im kern einen guten Menschen, während der Vater den Charakter seines Sohnes für schlecht hält. Die gegensätzlichen Einschätzungen über den Charakter gipfeln in den antithetischen Sätzen: "Er hat sich vergangen" - "Er hat sich nicht vergangen".