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Version vom 21. Oktober 2011, 08:24 Uhr von Michael Rödel (Diskussion | Beiträge)

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Variante 2: Lineare (textchronologische) Gliederung

A. Ein unruhiger Geist
B. Erschließung und Interpretation: Die Entscheidung, nach Venedig zu fahren
1. Vorbereitung in München (1-9)
a. Starke Raffung des Geschehens
b. kommentierende Funktion des Erzählers
2. Aufenthalt auf Adria-Insel (10-17)
3. Entscheidungsfindung: Venedig (17-40)
a. Enttäuschung im ursprünglichen Ferienziel
b. Venedig als einzige Lösung
4. Bewertung: Die Herausarbeitung der Entscheidungsfindung
C. Fazit: Die Entscheidung Gustav von Aschenbachs in Thomas Manns "Komposition"


Beispiel für eine Ausführung:

Der Schriftsteller Gustav von Aschenbach wird von Thomas Mann in seiner Novelle "Der Tod in Venedig" als unruhiger Geist dargestellt. Besonders deutlich wird das zu Beginn des dritten Kapitels, als von Aschenbach erst den Aufenthalt auf einer Adria-Insel sucht, dann abbricht, um schließlich festzustellen, dass Venedig der einzig mögliche Zielpunkt seiner Sehnsucht sein kann. Diese Entscheidungsfindung ist auch sprachlich deutlich herausgearbeitet.

Der erste Abschnitt (Z. 1-9) repräsentiert die – offenbar etwas zäh verlaufenden - Vorbereitungen des Urlaubsaufenthalts in München und die Anreise auf die Adria-Insel via Triest. Schon hier fällt die starke Raffung des Erzählgeschehens auf: mehrere Wochen werden auf nur wenige Zeilen eingeschmolzen. Dabei nutzt Thomas Mann einen Er-Erzähler, der jedoch personal hinter den Protagonisten Gustav von Aschenbach zurücktritt, und aus Innensicht dessen Gedanken darzustellen vermag. Dennoch wirkt der Erzähler wie jemand, der das Treiben und die Gedankenwelt Aschenbachs zwar genau kennt, ihn aber dennoch distanziert und abgeklärt, geradezu analytisch verfolgt. Dazu trägt ganz wesentlich die sprachliche Darstellung bei, z.B. die Verwendung des distanziert wirkenden Präteritums als Erzähltempus, aber auch kleine Einschübe wie z.B. "endlich" in Z. 4 ("Er [= Aschenbach] gab endlich Auftrag, [...]"): Es ist ein Kommentar des Erzählers. In ihm wird deutlich, dass der Erzähler über die Schilderung des Geschehens und der Gedanken der Hauptfigur hinaus als Kommentator in Erscheinung tritt.

Ein kurzes Zwischenspiel stellt der nächste, sich über sieben Zeilen erstreckende Satz dar (Z. 10-17). Er kann insofern als eigener Abschnitt gedeutet werden, als er nicht nur schildert, was Aschenbach sucht (das "Fremdartige und Bezuglose", Z. 10f.), sondern auch, dass er es nun auf der Adria-Insel zu finden scheint.

Dass Aschenbach aber auf der Adria-Insel, die seinen Vorstellungen zuerst vollkommen zu entsprechen scheint, plötzlich unzufrieden ist, wird durch eine Gegenüberstellung ab Z. 17 illustriert, die in sprachlicher Hinsicht durch "Allein" eingeleitet wird. Diese Gegenüberstellung, die die Unzufriedenheit Aschenbachs in Szene setzt, mündet in den beiden rhetorischen Fragen Z. 28ff.; sie arbeiten heraus, dass Venedig als Reiseziel in der gegenwärtigen Situation Aschenbachs nicht nur eigentlich auf der Hand liegt, sondern alternativlos ist. Diese rhetorischen Fragen stellen das inhaltliche Zentrum des dritten und entscheidenden Abschnitts dar. Sie dokumentieren, dass Aschenbach plötzlich bewusst wird, dass nur Venedig der Ort sein kann, der für ihn jetzt in Frage kommt, und der seine Unruhe stillen kann.

Zur eindringlichen Wirkung dieser Entscheidungsfindung tragen gestalterische Elemente ihren wesentlichen Teil bei. Die Raffung des Geschehens und die Innensicht scheinen einen Gegensatz darzustellen. Dieser Gegensatz aber löst sich auf, da trotz der Raffung alle relevanten inneren Beweggründe des Protagonisten geschildert werden und dadurch sogar in besonderer Deutlichkeit hervortreten. Dass in dieser Situation nur Venedig die Lösung für von Aschenbach sein kann, wird dem Leser durch die rhetorischen Fragen im gedanklichen Zentrum des dritten Abschnitts verdeutlicht.

Thomas Manns Werke werden in der Literaturwissenschaft häufig als "Kompositionen" bezeichnet. Überlegt man, ob die Entscheidung Aschenbachs, nach Venedig zu fahren, dem Leser beispielsweise in einem weniger gerafften Geschehen ähnlich eindringlich hätte geschildert werden können, kann man rasch zu dem Ergebnis kommen, der Autor hat diese gestalterischen Mittel ganz bewusst und nach reiflicher Überlegung eingesetzt - wie ein Komponist seine Noten setzt.